In einem außerordentlich lesenswerten Beitrag zur aktuellen #Aufschrei- und → Sexismus-Debatte erzählt → Die Nachtschwester von ihren persönlichen und den Erlebnissen anderer Frauen mit sexueller Gewalt. Sie schreibt:
… Mir ist von den erlebten Übergriffen keine Angst geblieben. Die Erinnerung an das Adrenalin, mein pumpendes Herz in den Carotiden, messerscharfe Wahrnehmung und Geistesgegenwart und unbeschreibliche, rasende Wut. Keine Angst. Wenn du mich nicht loslässt/mich anfasst, werde ich dich verletzen. Ich komme davon, du nicht. Meine Nichtangst ist so überwältigend, dass sie mir beinahe Angst macht. Ich konfrontiere Männer, die dumme Sprüche machen oder mir in der vollen Straßenbahn an den Hintern fassen, immer. Ich sehe ihnen in die Augen und fauche sie an, sodass alle Umstehenden hören, dass diese Ratte mich betatscht hat. Ich würde aus geringstem Anlass zutreten oder schlagen oder sprühen. Ich konnte Femme de la Rue kaum aushalten, die nichtendenwollende Ansammlung von Triggern für meine Aggression. Wie kann sie einfach weitergehen und nichts tun? Ich bin leicht und nicht groß und mein Verstand weiß, dass ich mit ein bisschen Fitness und Selbstverteidigungskurs und Pfefferspray nichts ausrichten könnte gegen einen gewieften Gewaltverbrecher, der einen Plan hat, mir etwa Trapanal in den Gesäßmuskel injiziert, mich bewusstlos in seinen Kofferraum wirft und in einem Kellerverlies, das nur durch eine versteckte Tapetentür zu erreichen ist, ankettet. Aber wieviele davon gibt es schon? Die meisten sind dumpfe Idioten, ohne Hirn, das Blut steckt gerade woanders, und ohne Plan. Ich weiß, ich überschätze mich, aber was soll ich machen? Ich habe keine Angst und bilde mir ein, dass mich das schützt.
Aber es geht nicht um mich. Ich respektiere M sehr und stelle mir Frauen wie sie hinter #aufschrei vor. Ich sehe ein, dass es schöner wäre, wenn man sich gar nicht erst gegen menschliche Schmeißfliegen wehren müsste. Man muss aber, sofort und unmittelbar und hörbar und unmissverständlich. Man kann es in den meisten Fällen auch. Sich in der kleinen deutschsprachigen Twitter- und Bloggergemeinde zu wünschen, sich nicht wehren müssen zu wollen, erreicht die Delinquenten doch nicht. Ich wünsche mir eine Verhältnismäßigkeit in der Diskussion …
Mir scheint die Frage, ob eine Frau sich in einer Notwehrsituation (und ausschließlich um solche Situationen geht es mir hier) wehren solle oder nicht, weniger eine Entscheidungs- denn eine Kompetenzfrage zu sein.
Ich habe es in meinen Seminaren und auch außerhalb des Seminarkontextes noch nie erlebt, dass eine Frau, der man die völlige Kontrolle über eine Situation antisozialer Gewalt gibt, sich dazu entschieden hätte, sich nicht zu wehren.
(Dass man einer Frau − oder wem auch immer, der was auch immer erlebt hat − nicht sagen solle, dass sie sich damals dort wohl besser anders hätte verhalten sollen, sich hätte wehren sollen, wenn sie es nicht getan hat, versteht sich von selbst.)
In dem Moment, wo eine Frau in der Lage ist sicherzustellen, dass der Täter aufhört mit dem, was er tut, wird sie es tun.
Manchmal braucht es nur eine winzige Veränderung der Parameter (etwa das kleine Kind, das ich ihr an die Hand gebe und für das sie verantwortlich ist), um deutlich zu machen, dass es sich eben nicht um ein Entscheidungs-, sondern um ein Kompetenzproblem handelt.
Dies gilt sowohl für Kontexte sozialer als auch antisozialer Gewalt.
In Kontexten sozialer Gewalt, in denen Reden manchmal noch hilft, ist die Lösung dabei häufig sehr viel weniger eindeutig.
In einer Notwehrsituation aber ist die Antwort auf die Fragen, die sich da plötzlich stellen, immer die:
Ich stelle sicher, dass der Täter aufhört mit dem, was er tut.
Noch einmal, ein Auszug:
… Sich in der kleinen deutschsprachigen Twitter- und Bloggergemeinde zu wünschen, sich nicht wehren müssen zu wollen, erreicht die Delinquenten doch nicht. …
Die Verlagerung des Problems ins Gesellschaftliche, in der Hoffnung auf eine zugegebenermaßen wünschenswerte Veränderung der Verhältnisse, hilft in der konkreten Situation, die immer Einzelschicksal ist, nicht wirklich weiter.
Wenn Sie wüssten, was zu tun ist, um den Täter daran zu hindern, weiterhin das zu tun, was er begonnen hat zu tun, würden Sie es tun?
Würden Sie sich wehren, wenn Sie wüssten wie?
Oder würden Sie sich, im Wissen darum, was zu tun wäre, entscheiden es nicht zu tun?